Genauso wenig wie in Tunesien und Ägypten waren die Islamisten in Libyen Motor des Aufstandes gegen den Despoten. Die junge Generation, angeführt von Internetaktivisten und Bürgerrechtlern, trieb den Protest auch in Libyen auf die Straße.
Als der Ruf nach mehr Freiheit mit scharfer Munition beantwortet wurde, forderten die Demonstranten „den Sturz des Regimes“ („isqat an-nizam“). Von da an dauerte es in Libyen noch ein paar Tage und Ende Februar 2011 herrschte Krieg zwischen bewaffneten Aufständischen, die einige von Gaddafis Militärarsenalen plünderten, und den Regierungstruppen. Bis zum gewaltsamen Ende Gaddafis dauerte es acht Monate. In dieser Zeit taten sich die Islamisten in den Reihen der Aufständischen mehr und mehr hervor. Zu Beginn fielen sie an der Front im Osten bei Benghazi als eifrige Helfer hinter den Linien auf, die Essenspakete an die Kämpfer verteilten. Bei der Eroberung von Gaddafis Regierungssitz Bab al-Aziziya führte der Afghanistan-Veteran Abd al-Hakim Belhadj das militärische Kommando. Seitdem ist er Chef des Militärrates von Tripolis und einer der mächtigsten Männer im neuen Libyen.
Genau wie in Tunesien und Ägypten versuchen die Islamisten in Libyen, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Sie sind weit gekommen, wie wir in Tripolis beobachtet haben. Die alte Militärakademie Gaddafis mit Gebäuden und Trainingsgelände haben sie sich unter den Nagel gerissen. Interessant ist, wie: „Wir hatten die Idee, eine Nationalgarde zu gründen, die die Landgrenzen, die Küsten, die Ölanlagen, die Banken und andere strategisch wichtige Einrichtungen bewacht,“ erklärt uns einer der bärtigen Bosse. „Wir haben einen Antrag beim Nationalen Übergangsrat gestellt und der hat ihn genehmigt.“ So einfach ist das im neuen Libyen. Und schon exerzieren Tausende junge Männer mit Kalashnikov und Schnellfeuergewehr aber ohne Sold in der Hoffnung, bald ganz offiziell Teil dieser neuen Truppe zu sein.
Ihr Chef ist Khalid ash-Sharif, ehemals Führungsmitglied in der islamischen Kampftruppe, dem libyschen Ableger der weltweiten Djihad-Bewegung. Seine Offiziere hetzen die Rekruten über Trainingsparcours mit Reckstangen, Gräben und Sprossenleitern, die an al-Qa´ida-Trainings-Camps erinnern. Diese Kommandeure saßen vor wenigen Jahren noch fast ausnahmslos in Gaddafis Gefängnissen. Nach dem Sieg über die Sowjets in Afghanistan waren sie nach Libyen zurückgekehrt, um den Kampf mit dem heimischen Despoten aufzunehmen, erfolglos. Einige, wie Belhadj, blieben im Dunstkreis der Taliban und al-Qa´idas und wurden nach 2001 von den US-Amerikanern gefasst und mit den berüchtigten CIA-rendition-flights (Überstellungsflügen) an Gaddafi ausgeliefert. Diese Gefangenen hatten bei vielen Libyern Märtyrerstatus, was Gaddafi beunruhigte. Er wollte einen Deal mit den Islamisten und schickte seinen Sohn Saif al-Islam vor, mit den Gefangenen zu verhandeln. Das Ergebnis war bemerkenswert. Viele Islamisten, unter ihnen Belhadj, kamen frei. Im Gegenzug schworen sie dem Djihad gegen das Regime ab, gaben Gaddafi sozusagen eine Bestandsgarantie. Diesen Sinneswandel dokumentierten sie in einem dicken politisch-theologischen Wälzer mit dem sperrigen Titel „Korrektive Studien über die Bedeutung des Djihad, der öffentlichen Moral und der Regierungsführung“. Also gar nicht lange vor der Revolution in Libyen hatten die Islamisten ihren Frieden mit Gaddafi gemacht.
Kein Wunder also, dass sie zunächst von den Ereignissen vor einem knappen Jahr überrollt wurden und sie etwas Zeit brauchten, um sich der Revolution anzuschließen und sich womöglich gar an ihre Spitze zu setzen. Diese Hintergründe sind den libyschen Islamisten heute peinlich und sie reden nicht gern darüber. Sie stellen sich lieber dar als diejenigen, die schon immer gegen Gaddafi waren. Interessanterweise nagelt der Chef des Übergangsrates, Mustafa Abd al-Djalil, die Islamisten auf den Deal mit Gaddafi fest, bei dem sie der Gewalt abschworen. Für Abd al-Djalil gilt diese Verpflichtung im neuen Libyen fort. Na ja, Abd al-Djalil war, als Gaddafi den Deal mit den Islamisten einfädelte, der Justizminister des Despoten und wird heute nicht müde zu betonen, dass im neuen Libyen der „gemäßigte Islam“ (al-islam al-wasati) den Ton angebe. Was aber ist Sinn und Zweck der neuen Nationalgarde, die von den Führern der islamischen Kampfgruppe gegründet wurde? Wird das die neue Grenzschutzbehörde, die dem Allgemeinwohl verpflichtet ist oder der militärische Arm der libyschen Islamisten, der im internen Machtkampf zum Einsatz kommen wird? Eine Frage, die für die Zukunft des Landes nicht ganz unwichtig erscheint.
Stefan Buchen
Studium der Arabischen und Französischen Sprache in Germersheim, danach Studium der Arabischen Sprache und Literatur. Ab 1995 Korrespondent im AFP-Büro Jerusalem und Producer im Nahen Osten. 2000 Volontariat beim Norddeutschen Rundfunk, danach fester freier Mitarbeiter bei Panorama sowie freier Autor bei arte. Zahlreiche Reportagen und Berichte u.a. aus Iran, Irak, Israel u. den palästinensischen Autonomiegebieten. 2011 wurde Stefan Buchen zum Reporter des Jahres ausgezeichnet und er ist Träger des Leipziger “Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien” (2011). Stefan Buchens Blog